Zwuckelmanns Meinung: Es gibt einen Ort in Deutschland, an dem das Grundgesetz nicht gilt

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Es gibt Bereiche in Stuttgart, in denen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht zu gelten scheint. Zu diesem oder einem ähnlichen Schluss muss man kommen, wenn man sich die Vorgänge rund um die Baustelle am ehemaligen Nordflügel des Hauptbahnhofs näher ansieht.

Seit vielen Monaten, nein, seit Jahren bereits finden rund um den Hauptbahnhof an diversen Baustellen regelmäßig, häufig und beharrlich Demonstrationen statt. Der unverminderte Protest, der sich immer wieder auch darin äußert, dass sich Demonstranten direkt vor dem Tor der Baustelle versammeln, ist lästig und stört den ungehinderten Ablauf der Baustellen. Deshalb versuchte die Polizei bereits vor über einem Jahr, mit absurden Paragraphen (zum Beispiel §118 OWiG / „Belästigung der Allgemeinheit“, ehemals „Grober Unfug“) die Demonstranten davon abzuhalten, sich überhaupt vor das Tor zu stellen. Alle Ahndungen unserer Aktionen des Zivilen Ungehorsams haben jedoch nicht dazu geführt, dass der Protest abgenommen hätte.

Das Vorgehen der Polizei mit den Demonstranten war routiniert und in aller Regel unkompliziert. Wenn Fahrzeuge daran gehindert wurden, in eine Baustelle zu fahren, wurde die Polizei gerufen, wenn sie nicht sowieso schon vor Ort war. Diese kam, forderte die Demonstranten auf, die Einfahrt frei zu machen, löste dann die Versammlung auf, wies ggf. einen neuen Versammlungsort zu und räumte, falls sich doch noch Demonstranten in den Weg stellten, rechtskräftig und ordentlich die Einfahrt, so dass die Fahrzeuge einfahren konnten. Die Blockierenden, die nach der Auflösung der Versammlung nicht die Einfahrt frei machten, bekamen einen Platzverweis und wurden, wenn der Verdacht einer Straftat vorlag, angezeigt. Unsere Demonstrationen und Protestveranstaltungen wurden als Versammlung nach Artikel 8 Grundgesetz anerkannt und als solche behandelt – so, wie wir es erwarten können und wie es juristisch einwandfrei ist. Dies ist deshalb wichtig, weil es der Polizei eben nicht möglich ist, Mitglieder einer Versammlung zum Beispiel willkürlich wegen Verstoßes gegen die StVO zu belangen oder willkürlich Platzverweise auszusprechen, bevor die Versammlung selbst nicht aufgelöst ist. Versammlungen stehen unter besonderem rechtlichem Schutz – und das ist gut so, wie wir uns gerade am heutigen Datum erinnern sollten!

Laut Polizei seit der Volksabstimmung, de facto jedoch erst seit Mai 2012 verfährt die Polizei bei derartigen Protesten anders. Sie spricht den Demonstranten inzwischen grundsätzlich und ohne Berücksichtigung der jeweiligen spezifischen Situation ab, eine Versammlung zu sein. In den schriftlichen Begründungen der Bußgeldbescheide heißt es dann beispielsweise, dass „Elemente der öffentlichen Meinungskundgabe und Meinungsbildung, die auf die Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit“ schließen lassen, nicht aus den gemeldeten Sachverhalten hervorgingen. „Es handelte sich demnach um reine Verhinderungsblockaden, die in erster Linie dazu dienten, Dritten den eigenen Willen aufzuzwingen. Diese fallen nicht unter die gemäß Artikel 8 Grundgesetz geschützte Versammlungsfreiheit.“ Diese Verhinderungsblockaden seien „Selbstzweck“ und nicht mehr Mittel zum Zweck. Man muss sich ernsthaft fragen, welche Proteste hier gemeint sind. Bei jeder Protestaktion, auch an den regelmäßigen Dienstagen, werden große Transparente an die Bauzäune gehängt, Demonstranten halten Plakate mit Forderungen hoch, Handzettel werden an Passanten ausgeteilt. Wie man bei einer solchen Situation darauf schließen kann, dass keine „Elemente der öffentlichen Meinungskundgabe“ vorhanden wären, lässt doch sehr an der Wahrnehmung der anwesenden Polizisten zweifeln. Darüber hinaus werden trotz deutlicher anderslautender Bekundungen der Beklagten deren tatsächliche Motive nicht zur Kenntnis genommen. Richter- und Staatsanwaltschaft unterstellen den Demonstranten grundsätzlich, dass sie tatsächlich Bautätigkeiten verhindern wollten und die Blockaden deswegen reiner Selbstzweck seien. Sämtliche vorgebrachten und für den gesunden Menschenverstand glasklaren Gründe, warum es noch immer und immer wieder richtig und wichtig ist, gegen dieses Projekt zu demonstrieren, werden angehört – und finden im Urteil keinen Niederschlag. Doch für wie weltfremd muss man die Demonstranten halten, um davon auszugehen, dass diese mit ihren Blockaden tatsächlich den staatlich-politisch gewollten Baufortschritt verhindern wollten oder meinten, diesen verhindern zu können? Diese Form des Protests kann immer nur auf Öffentlichkeitswirksamkeit aus sein – und er nimmt dabei billigend in Kauf, dass LKW-Fahrer 30 Minuten später in die Baustelle einfahren.

Neben dieser abenteuerlichen (und bereits höchstrichterlich anders entschiedenen) Begründung, warum diese Proteste keine Versammlung seien, werden noch weitere Gründe angeführt. In Verhandlungen wurde wiederholt bei der Urteilsbegründung angeführt, dass diese Proteste keine Versammlung seien, weil sie eine angebliche „rechtsstaatliche Friedenspflicht“ verletzten. Als juristischer Laie gibt man „rechtsstaatliche Friedenspflicht“ in Google ein – und erhält dann doch immerhin einen Treffer! Besonders weit verbreitet scheint das juristische Konstrukt der „rechtsstaatlichen Friedenspflicht“ nicht zu sein. Sie wird in Stuttgart in Verbindung mit der Volksabstimmung gebraucht und soll heißen, dass es nach der Volksabstimmung keinen Grund mehr für derartige Proteste gebe – nein, viel mehr dass es nach der Volksabstimmung eine „Pflicht“ der Bevölkerung gebe, endlich Ruhe zu geben und „Frieden“ mit dem Projekt zu schließen. Eine Volksabstimmung nimmt also laut Stuttgarter Justiz der Bevölkerung das Recht (oder zumindest ein Teil des Rechts) zu demonstrieren und zu protestieren – weil die Mehrheit der Bevölkerung ja ein bestimmtes Ergebnis befürworte. Eine noch abenteuerlichere Rechtsauslegung als das Argument der nicht vorhandenen öffentlichen Meinungskundgabe – aber leider Realität. Jetzt wissen wir auch endlich, wie Kretschmann und Schmid die „befriedende Wirkung“ einer Volksabstimmung meinten.

Ein wenig verraten hat sich am vor-vergangenen Dienstag (Siehe Youtube Video 22.01.2013) ein Einsatzleiter der Polizei. Er kam auf uns zu und bot uns wiederholt an, auf dem Platz vor der LBBW eine Versammlung abhalten zu dürfen. Dort wären wir dann eine Versammlung und dürften demonstrieren. Hier jedoch, vor der Einfahrt zur Baustelle, wären wir keine Versammlung, sondern eine Verhinderungsblockade. Ohne in juristische Spitzfindigkeiten verfallen zu wollen und auch nur als juristischer Laie muss man sich doch zwangsläufig fragen, seit wann der Ort ein konstituierendes Element einer Versammlung ist. Das Grundgesetz gibt klare Vorgaben, wann eine Versammlung eine Versammlung ist. Dass eine Versammlung an einem Ort keine Versammlung ist, weil sie hier „nur Verhinderungsblockade“ sei, 10 Meter weiter links aber dann doch eine Versammlung ist, ist zumindest für mich schwer begreifbar. Aber wenn die Polizei uns das schon anbietet, müssten ja eigentlich alle konstituierenden Elemente einer Versammlung grundsätzlich vorhanden gewesen sein – nur dass wir eben an einem Ort standen, wo diese Elemente aus welchen Gründen auch immer, nichtig gewesen sind oder der Ort so sehr gegen die Existenz einer Versammlung spricht, dass hier eigentlich nie eine Versammlung stattfinden könnte, weil der Ort an sich sämtliche anderen konstituierenden Elemente ausschaltet – ein Ort also, an dem das Grundgesetz schlichtweg nicht gilt. Eine weitere abenteuerliche Stuttgarter Realität.

In der Presse wird häufig erwähnt, wenn es um die vielen Prozesse gegen Demonstranten und den Vorwurf ihrer gezielten Kriminalisierung geht, dass es ja „kein Recht auf Sitzblockaden“ gäbe. Viele Demonstranten würden nach „gesundem Menschenverstand“ urteilen, seien aber juristische Laien und würden deshalb Rechte falsch auslegen. Diese Verkürzung ist unzulässig, denn es geht nicht um die rechtliche Verfolgung von Sitzblockaden sondern es geht um das Recht auf Versammlungsfreiheit. Jedem Sitzblockierer in Stuttgart ist klar, welche Folgen es für ihn oder sie hat, wenn man nach der Auflösung der Versammlung sitzen bleibt. Das macht ja gerade Zivilen Ungehorsam aus, dass man sich bewusst in einer Art friedlich verhält, die auch strafbar sein kann und man eben bewusst diese Strafen auf sich nimmt, weil man dieses Verhalten nach anderen, höheren ethisch-moralischen Maßstäben rechtfertigt. Dies sind auch überhaupt nicht die Fälle, bei denen von Kriminalisierung gesprochen wird. Von Kriminalisierung muss man jedoch sprechen, wenn Demonstranten willkürlich aus Versammlungen gepickt werden, ihre Personalien festgestellt und ihnen Platzverweise erteilt werden. Von Kriminalisierung muss man sprechen, wenn Demonstranten während einer Versammlung eine Anzeige wegen einer Ordnungswidrigkeit erhalten. Von Kriminalisierung muss man sprechen, wenn Versammlungen ohne Berücksichtigung der jeweiligen spezifischen Situation grundsätzlich und ohne Ausnahme nicht als Versammlung angesehen werden. Von Kriminalisierung muss man sprechen, wenn die Polizei sofort und ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund eine Versammlung intensiv und dauerhaft filmt. Von Kriminalisierung muss man sprechen, wenn allein der Ort als konstituierendes Merkmal einer Versammlung vorgebracht wird. Von Kriminalisierung muss man sprechen, wenn auf Basis von zwei Verdachtsfällen auf Straftaten wegen Nötigung nach §240 StGB Aufenthaltsverbote von drei Monaten ausgesprochen werden. Von Kriminalisierung muss man schließlich auch dann sprechen, wenn Staatsanwaltschaft, Polizei und Amt für öffentliche Ordnung in gegenseitiger Absprache gezielt Grundgesetze außer Kraft setzen und eine ganz eigene Rechtsprechung für gültig erklären und diese ohne Ausnahme gegen Beschuldigte durchsetzen. Dann muss man von Kriminalisierung sprechen! Und jeder, der das nicht tut, verrät den Rechtsstaat und die bürgerlichen Freiheitsrechte!

Die Stuttgarter Behörden müssen sich damit abfinden, dass es, solange es das Projekt Stuttgart21 gibt, auch Protest gegen dieses Projekt geben wird. Hier wird keine Kriminalisierung etwas ändern. Dass die Behörden dennoch gezielt kriminalisieren, zeigt erschreckend das sehr gestörte, ja gefährliche Verhältnis dieser Behörden zu demokratischen Verfahren und rechtsstaatlichen Freiheitsrechten.

Der Ausdruck „rechtsstaatliche Friedenspflicht“ beschreibt sehr gut das Selbstverständnis der Stuttgarter Ordnungs- und Justizbehörden. „Demonstration darf sein und auch Protest darf sein, aber irgendwann ist dann doch bitte gut. Und wann das ist, bestimmen wir!“ Dass keine Behörde darüber bestimmen darf, wann (friedliche) Demonstrationen und Versammlungen „gut“ und damit akzeptabel sind und wann nicht, das ist eine der größten Errungenschaften unseres Rechtsstaats. Und genau diese Unveräußerlichkeit der Grundrechte ist es, die hier zur Disposition steht. Wenn Grundrechte keine unveräußerlichen Grundrechte mehr sind, sondern einer beliebigen konzertierten Aktion von Behörden geopfert werden können – und damit veräußerlich und zum Spielball politischer Interessen werden – spätestens dann müssen alle Alarmglocken schrillen, denn spätestens dann stimmt etwas grundsätzlich nicht in dieser hoch gelobten neuen „Stuttgarter Republik“.

Oben bleiben!

P.S. Dass die gemeinsam ausgeheckte Vorgehensweise der Verhängung von Ordnungswidrigkeiten den beteiligten Behörden zum Vorteil gereicht, sei nur am Rande angemerkt: die Polizei darf schneller und unkomplizierter zu- und durchgreifen, wenn sie auf das Versammlungsrecht keine Rücksicht nehmen muss; die Staatsanwaltschaft wird entlastet, weil weniger Straftaten zur Anzeige kommen, da primär Bußgelder verhängt werden; die Stadt freut sich, weil die Bußgelder direkt ins Stadtsäckle fließen. Die Bußgelder belaufen sich übrigens auch schnell einmal auf 500 Euro!