Alternative Medien der autonomen Szene

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Eine hoch aktuelle Bestandsaufnahme und Überlegung über die Gefahren und Möglichkeiten der Berichterstattung bei Demonstrationen. Dieses Thema ist auch für die cams21 Reporter immer wieder ein „Tanz auf dem Vulkan“. Deshalb und auch auf hinblick zu Blockuy Frankfurt dieser Gastbeitrag von @Anon_Victory (follow on twitter) :

Aufgrund immer wiederkehrender Diskussionen über Livestreams, Fotos, Videos und anderen Möglichkeiten der Dokumentation von Demonstrationen und Aktionen der linken Protestszene möchte ich hier gerne ein paar Worte zu verlieren.

Oft höre ich von “Linken”: “Wir wollen keine Presse. Bitte keine Fotos machen. Livestreams gehen gar nicht.” usw. Die Gründe dafür sind eindeutig und nicht von der Hand zu weisen. Gehen wir darauf als erstes ein.

Die Gründe gegen eine Dokumentation der eigenen Arbeit

1. Wer sich an politischen Aktionen beteiligt, auch wenn sie innerhalb eines legalen Rahmens passieren, dem drohen Repressionen durch den Staat. Entstehen bei einer solchen Aktion Dokumente, die die eigene Teilnahme belegen können, setzt man sich dieser Gefahr der Repression aus.

2. Speziell die Antifa hat große Probleme mit der Dokumentation ihrer Aktionen, denn die Anti-Antifa, ein Teil der rechten Szene, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Antifa auszuspionieren und zu zerstören, ist erfreut über alles an Material, was sie zur Identifizierung benutzen kann.

3. Manchmal eskaliert eine eigentlich friedlich geplante Demonstration durch verschiedene Umstände. Werden dann Videos oder Fotos gemacht, kann es passieren, dass man eigene Genoss*Innen bei einer Straftat, wie z.B. das Werfen von Steinen oder ähnlichem, festhält und so dem Staat Material liefert, was er gegen die betroffenen Personen einsetzen kann.

Natürlich sind alle diese Gründe gerechtfertigt und ernst zu nehmen. Nichts desto trotz kommen wir nicht ohne Presse und vor allem nicht ohne eigene Medien aus.

Die Gründe für eine Dokumentation der eigenen Arbeit

1. Die Mainstream Medien berichten nicht objektiv über uns. Jede/r der/die sich schon mal an einer Demonstration beteiligt hat und anschließend in den Medien Berichte darüber gesehen oder gelesen hat, wird wissen wovon ich spreche. Oftmals stimmen die Teilnehmerzahlen nicht, die Inhalte werden nur selten vermittelt und im schlimmsten Falle wird eine Eskalation falsch dargestellt. Häufig eskalieren Demonstrationen durch ein ungerechtfertigtes Vorgehen der Polizei. Die Mainstream Medien stellen dies aber im Normalfall genau anders herum dar. So heißt es dann nicht selten: “Autonome Krawallmacher sorgten mit Steinwürfen für eine Eskalation der Demonstration.”

2. Warum organisieren wir Demonstrationen? Doch eigentlich deshalb, weil wir für unsere Themen, Anliegen und Inhalte Öffentlichkeit schaffen wollen. Findet eine Demonstration statt, erreichen wir dann im besten Falle diejenigen die am Rande der Demonstration wohnen oder durch Zufall dort entlanglaufen. Wenn aber eine große Menge von Menschen auf die Straße geht, so kann es passieren, dass die Demonstration weit über die Grenzen der Stadt, in der sie stattfindet, Öffentlichkeit bekommt. Gott sei Dank! Viele Menschen erfahren im Nachhinein von der Demonstration und haben Fragen, wollen Hintergrundinformationen und suchen dann natürlich nach Berichten, Fotos und Videos im Netz. Wenn wir keine eigenen Medien haben, werden diese Menschen nur die Berichte der Mainstream Presse finden. Dass diese unsere Inhalte nicht korrekt wiedergibt, hatte ich ja gerade schon erläutert.

3. Die Dokumentation der eigenen Arbeit ist auch für uns selbst hilfreich. So können wir mit dieser Hilfe im Nachhinein reflektieren und aufarbeiten was schief gegangen ist. Wir können Vergleiche stellen, zwischen der Arbeit der linken Szene vor 20 Jahren und heute. Kurz, wir können uns selbst, wenn wir uns konstruktiv kritisch hinterfragen, weiterentwickeln.

Welche Lösungen bieten sich an?

Hören wir auf die Gegner*Innen der Livestreams und verzichten auf eigene Presse und Öffentlichkeitsarbeit, wird sich an unserer Situation wohl nichts ändern. Wir überlassen den Medien die Deutungshoheit über unsere eigene Arbeit und werden wohl ewig in unserer eigenen Subkultur hängen, zu denen der Zutritt für “Neulinge” unheimlich schwer ist. Denn niemand wird sich einer Gruppe anschließen, deren Ziele nicht deutlich erkennbar sind und die zudem noch nur deshalb auffällt, weil sie randaliert. Dies ist das Bild was die Mainstream Medien von uns zeichnen.

Lassen wir alle wie wild Fotos schießen und Livestreams senden, setzen wir uns selbst Repressionen durch Staat und Nazis aus. Auch dies ist natürlich keine Alternative, denn damit würden wir uns wohl ähnlich kaputtmachen, wie mit der ersten Variante.

Für mich gibt es deshalb nur eine einzige Lösung für dieses Problem. Wir brauchen einen differenzierten, kritisch hinterfragten und sich selbst immer wieder überarbeitenden Umgang mit eigenen Medien. Hierzu möchte ich gern kurz auf die Situation in Spanien eingehen, um zu verdeutlichen was ich damit meine.

Die spanische Variante

Als die Bewegung 15M in Spanien an Bedeutung gewann, reiste ein Team von Aktivist*Innen durch das ganze Land und hielt Workshops über das Livestreamen. Sie besuchten verschiedene Protestgruppen, boten ihnen Hilfestellung an und berichteten über ihre Arbeit mit den Livestreams. Sie sammelten Kontakte und erstellten so ein Netzwerk von Streamer*Innen, das sich über das ganze Land ausbreitete. Gibt es in Spanien Großdemonstrationen, an denen mehrere Städte teilnehmen, sitzen einige der Aktivist*Innen zu Hause vor ihren Rechnern und koordinieren die Streams aus den verschiedenen Städten. Sie setzen die Live-Videos gemeinsam zu einem Bild zusammen, verteilen über ihre Kanäle Informationen aus den verschiedenen Städten und halten Kontakt zu den Streamer*Innen. So garantieren sie eine lückenlose Dokumentation der eigenen Arbeit. Anders als vielfach hier dargestellt, hatte die Bewegung in den ersten Monaten sehr zu kämpfen um größer zu werden. Die größte Mobilisierung erzeugten wohl die Livestreams. Denn sie demaskierten die demokratische Fratze des Staates. Während der Demonstrationen, auf denen friedliche Menschen für Grundrechte demonstrierten, schlug der Staat mit brutaler Polizeigewalt zu. Es wurden Gummigeschosse eingesetzt, Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke, ohne dass es einen Grund dafür gegeben hätte. Die Livestreams, die dies dokumentierten, nahmen den Mainstream Medien, die verzweifelt versuchten, die Schuld für die Eskalationen den Demonstrant*Innen zu geben, den Wind aus den Segeln. Zahlreiche Spanier*Innen sagen, dass sie sich genau deshalb der Protestbewegung anschlossen. Sie waren empört über die offensichtlichen Lügen der Presse und der Politik, als sie sahen, dass junge Frauen, Kinder und alte Menschen völlig zu Unrecht brutal von der Polizei niedergeknüppelt wurden. Das Argument, dass man dies auch mit Videos hätte dokumentieren können, ist schlichtweg falsch. Ein Video lässt sich im Nachhinein bearbeiten, schneiden, etc.. Der Livestream gibt dem/der Zuschauer*In das Gefühl an einer Sache direkt teilzunehmen. Die Informationen, die über einen Livestream übermittelt werden, sind echt, ungefiltert und unzensiert.

Die Twitterei

Immer häufiger werden Aktionen, Veranstaltungen und Demonstrationen live getwittert. Das bedeutet, dass Teilnehmer*Innen alles Wichtige mit Hilfe von Tweets dokumentieren und direkt ins Netz senden, häufig inklusive Fotos. Am Beispiel Refugeecamp in Berlin möchte ich gerne aufzeigen, warum dies ein gutes Mittel der Mobilisierung ist.

Als die Refugees ihr Protestcamp auf dem Pariser Platz aufbauten, ging die Polizei mit brachialer Gewalt gegen die Flüchtlinge und ihre Unterstützer*Innen vor. Dank einiger Pirat*Innen wurden diese Übergriffe sofort dokumentiert und via Twitter ins Netz gestellt. Dies sorgte dafür, dass innerhalb von wenigen Stunden ein ziemlicher Hype auf Twitter über dieses Thema entstand. Die Botschaften gingen ins ganze Land hinaus. Die Empörung über den unmenschlichen Umgang mit den Menschen, die sowieso kaum Rechte in unserem Land haben und deren Protest mehr als jeder andere, gerechtfertigt ist, war groß und genau das mobilisierte viele Menschen in und um Berlin herum, aber auch aus vielen anderen Ecken Deutschlands, das Protestcamp zu besuchen und zu unterstützen, mich selbst eingeschlossen.

Die Mainstream Medien unter Druck

Hinzu kommt der Druck der durch die eigene Dokumentation auf die Presse ausgeübt wird. Auch hierzu ein gutes Beispiel aus Spanien: Am 25. September 2012 riefen die Spanier*Innen zur Umzingelung des Parlaments auf. Es beteiligten sich Hunderttausende von Menschen an den Demonstrationen. Die ARD berichtete zunächst gar nicht darüber. Dann fand das Thema großen Anklang in den sozialen Netzwerken, aufgrund der Livestreams, die die Demonstrationen und auch die massive Polizeigewalt dokumentierten. Die ARD reagierte und berichtete von Protesten von einigen hundert Spanier*Innen gegen die Kürzungspolitik. Daraufhin ergoss sich ein riesiger Shitstorm auf der Facebook-Seite der Tagesschau. Tausende von Kommentaren, in denen auf die Livestreams hingewiesen wurde, zeigten deutlich, dass sich die Zuschauer*Innen der Tagesschau um Informationen betrogen fühlten. Andere Medien berichteten schadenfroh über den Shitstorm, was die ARD noch weiter unter Druck setzte. Sie korrigierte sich selbst nach zwei Tagen und berichtete dann deutlich differenzierter über die Proteste in Spanien.

Mein Lösungsansatz

Ich könnte noch mehr Beispiele für das Wirken von Livestreams und eigener Dokumentation von Protesten aufzählen, aber stattdessen werde ich auf einen Lösungsansatz eingehen. Das Internet zählt definitiv zu einer der stärksten Waffen, die wir besitzen. Wir müssen nur noch lernen, damit umzugehen. Zum einen braucht es beides, die Netzarbeit und die Proteste auf der Straße. Zweitens müssen diese beiden Bereiche koordiniert zusammenarbeiten. Drittens müssen wir uns darüber im Klaren werden, wie wir die Waffe Internet einsetzen wollen, so dass sie uns bei unseren Kämpfen unterstützt und nicht behindert oder gar gefährdet. Wir brauchen einen reflektierten und vor allem strukturierten Umgang mit den neuen Medien. Wir können uns nicht davor verschließen, denn sie sind Teil unseres Lebens. Ich zähle jeden Tag mehr “linke” Accounts bei Twitter. Ich zähle aber auch jeden Tag mehr rechte Propaganda auf Facebook und anders herum. Beachten wir also die sozialen Netzwerke und die neuen Medien nicht, laufen wir Gefahr, dass die Rechten sie mit ihrer menschenverachtenden Ideologie besetzen. Wir müssen uns darüber im Klaren werden, dass die Masse der Bevölkerung, die wir mit unseren Botschaften erreichen wollen, sich in sozialen Netzwerken aufhält. Setzen wir uns mit diesen neuen Möglichkeiten auseinander und lernen wir, wie wir sie uns zu Nutze machen können, anstatt uns ängstlich vor ihnen zu verschließen. Erfinden wir uns neu, entwickeln wir uns weiter und öffnen wir unsere Strukturen, um neuen Menschen Zugang zu uns zu ermöglichen. Die Zeit, in der wir leben, ist eine Zeit großer Verunsicherung für viele Menschen. Sie suchen nach einem Ausweg aus der alternativlosen Krise. Reichen wir ihnen die Hand und zeigen wir ihnen, dass linke Strukturen nicht bloß vermummt und gewaltbereit auf die Straße gehen, sondern sich aktiv für eine bessere und gerechtere Welt für alle einsetzen. Zeichnen wir ein eigenes Bild von uns, anstatt es den Mainstream Medien zu überlassen.

Der Grund für diesen Blogpost:

Gestern war ich auf einer Demonstration in Solingen, die an den rassistischen Brandanschlag vor 20 Jahren erinnerte. Die Presse war zahlreich vertreten, ebenso wie Livestreamer*Innen und Twitter*Innen.

Der Original Blogpost ist hier mit allen weiteren Informationen (Fotos,Livestreams,Medien zu Solingen v.25.05.2013)

pet/26.05.2013