Im ersten Halbjahr 2014 führte ein kleines Team 7 Umfragen auf Demonstrationen gegen Stuttgart 21 durch. Hier nun das Fazit aus verschiedenen Interviews mit den Mitgliedern dieses Teams. Die gezeigten Schaubilder entstanden aus einzelnen Antworten dieser Umfragen.
Der Tisch ist übersät mit rosafarbenen Zetteln. Einige sind mit einer Büroklammer zusammenheftet. Alex nimmt sich einen so zusammengehefteten dicken Stapel vom Tisch und geht ihn Zettel für Zettel durch. Auf den Zetteln haben bei der Umfrage die Teilnehmer der Montagsdemo aufgeschrieben, welche Fragen sie einmal den Montagsdemo-Teilnehmern stellen möchten. Die anderen am Tisch, Andrea, Christine, Wolfgang und Harry diskutieren über die Formulierung der Fragen für die kommende Montagsdemo-Umfrage. »Das ist viel zu suggestiv« wirft Christine ein. Als Alex das Demoverbot auf der Schillerstraße anspricht, fällt ihm Andrea ins Wort: »Bitte nicht schon wieder den Demo-Ort, das hatten wir jetzt wirklich oft genug!« Der Zettelstapel zu diesem Thema ist ziemlich dick, dieses Thema scheint bis heute manchen Demonstranten sehr zu beschäftigen.
Die Suche nach neuen Fragen ist nicht einfach. Lange diskutiert die Gruppe über jede einzelne Frage, sucht Themen, formuliert Fragen und Antwortmöglichkeiten und verwirft diese wieder. Bis ein Fragebogen mit fünf bis sechs Fragen endgültig steht, können schon auch einmal mehrere Stunden und sogar Abende vergehen. Auch heute sitzt die Gruppe bis spät in den Abend beisammen und diskutiert.
Die Gruppe, welche Umfragen auf den Montagsdemos organisiert hat, eint das Erlebnis, dass in den letzten Jahren Entscheidungen, welche aber immer die gesamte Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 betroffen haben, nahezu ausschließlich von einigen wenigen Gruppierungen getroffen wurden. Die meisten Demonstranten und Aktivisten waren in diese Entscheidungen nicht eingebunden. In dieser übereinstimmenden Beschreibung der Motivation der Gruppenmitglieder für die Durchführung der Befragungen schwingt die Vermutung mit, dass die getroffenen Entscheidungen nicht unbedingt immer dem Willen der Mehrheit der Demonstranten entsprochen haben könnten. Die Befragungen sollten also Sprachrohr für die Demonstranten sein, ihnen eine Stimme geben, aber auch basisdemokratischer Prüfstein für die Entscheider sein, in wie weit die bisher getroffenen Entscheidungen tatsächlich auch Rückhalt bei den Demonstranten genießen.
Dass sich die Mühe gelohnt hat, zeigt die große Bereitschaft der Demonstrantinnen und Demonstranten, an den Befragungen teilzunehmen. Die Teilnahmequote betrug bei allen sieben Befragungen jeweils zwischen 50 und 75 Prozent. Insofern lagen die Organisatoren auch nicht falsch, dass ein solches Sprachrohr von den Demonstranten genutzt würde.
»Wir sind aber sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurück geholt worden«, sagt Alex. »Gleich nach der zweiten Umfrage haben wir Ergebnisse erhalten, die wir so niemals erwartet hätten – und die uns, ehrlich gesagt, auch gar nicht passten.« – »Aber dafür haben wir das ja auch gemacht«, wirft Harry ein. Und überraschende Ergebnisse gab es einige: Die Frage nach dem Demo-Ort, die oft und lang und ausgiebig in verschiedenen Foren und Zusammenhängen äußerst kontrovers diskutiert wurde, brachte auch bei den Umfragen kein eindeutiges Ergebnis zutage – obwohl einige aus dem Umfrageteam ein eindeutigeres Ergebnis erwartet hatten. Eine dünne Mehrheit präferierte laut Umfrage den Bahnhof als Demo-Ort, die andere Hälfte präferierte den Marktplatz. Dieses Ergebnis zeigt, wie zwiegespalten die Bürgerbewegung in dieser Frage tatsächlich ist. Ein ähnlich uneindeutiges Ergebnis erbrachte die Frage nach der Demoroute. Hier überlässt es der größte Teil den Demo-Organisatoren, eine geeignete Route heraus zu suchen. Weder der Cityring noch die Königstraße sind allein mehrheitsfähig.
Für Andrea war das überraschendste Ergebnis, dass es eine so klare Haltung gegenüber Verbänden und Parteien auf der Montagsdemo gibt. Neun von zehn Befragten finden es demnach nicht gut, wenn Parteien oder Verbände richtungsgebenden Einfluss auf die Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 nehmen. Offenbar werden Parteireden auf den Montagsdemos aber nicht als richtungsgebend angesehen, denn fast 60 Prozent der Befragten hatten bei einer Befragung zwei Wochen später nichts dagegen, dass Parteimitglieder auf der Montagsdemobühne Reden hielten. Über die Gründe für diesen Widerspruch kann nur spekuliert werden. Unklar ist beispielsweise, was die Demoteilnehmer unter „Einfluss von Parteien und Verbänden“ verstehen und auch was „richtungsgebend“ genau bedeutet. Alex spekuliert, dass das Ergebnis auf diese Fragen aber vielleicht dazu geführt hat, dass in den letzten Wochen und Monaten der Anteil an Parteirednern trotz Europa- und Kommunalwahlkampf relativ klein gewesen ist – wesentlich kleiner jedenfalls als in den Wahlkampfperioden vergangener Jahre.
Ein für Alex besonders überraschendes Ergebnis war, dass die allermeisten Teilnehmer der Montagsdemos bereits von Anfang an, also seit 2009 oder 2010 dabei sind. Das heißt aber auch, dass die meisten, die 2011 oder 2012 noch zu dem Protest hinzugestoßen sind, inzwischen bereits wieder abgesprungen sind und die Montagsdemos nicht mehr besuchen. Dieses Ergebnis zeigt den besonderen Durchhaltewillen und die Hartnäckigkeit der Demonstranten.
Das schwierigste bei der Fragebogengestaltung war für die Organisatoren, die Fragen nicht zu suggestiv zu stellen. Dies ist in den allermeisten Fällen gelungen. Teilweise wurde aber auch ganz absichtlich sehr provokativ gefragt. Für Alex stellt die äußerst provokante Frage danach, ob den Befragten bewusst sei, dass das Demoteam am Umfrageergebnis keinerlei Interesse habe, die interessanteste Frage dar, weil sie das gesamte Thema sehr zugespitzt auf den Punkt bringt: eine große Menge, die nicht gefragt wird, und eine kleine Entscheidungsgruppe, die niemanden mitreden lässt. Die Hälfte verneinte diese Frage, ein Drittel hält diese Frage sogar für eine Unterstellung.
Gerade die Ergebnisse auf solche provokanten Fragen sorgten beim Umfrageteam aber auch für besonders viel Frust. Denn natürlich sollten gerade diese Fragen eine Reaktion bewirken, eine Reaktion der Demoteilnehmer oder eine Reaktion des Demoteams oder anderer Entscheidungsgruppen. Doch nichts geschah, auch wenn die Antworten auf die provokanten Fragen regelrecht nach einer Reaktion geschrien haben. „Es macht keinen Spaß, provozierende Fragen zu stellen, wenn Du ahnst, was dabei herauskommt, aber trotzdem gar nichts passiert. Nichts!“ resümiert Andrea. „Dabei haben wir bewusst darauf verzichtet, die Ergebnisse zu interpretieren oder sie gar zu instrumentalisieren. Wir wollten die Ergebnisse für sich sprechen lassen, haben gehofft, dass die Ergebnisse von anderen Gruppen aufgegriffen und gezielt genutzt würden.“ Sie selbst haben versucht, so neutral wie möglich zu sein – was äußerst schwierig ist, wenn man selbst so tief in der Bürgerbewegung drin steckt, wie es alle im Umfrageteam tun. „Eine Menge Menschen ist immer ein unglaublich träge Masse“, sinniert Andrea, „Das zumindest habe ich aus diesen Befragungen gelernt.“ Sie zieht an ihrer Zigarette und setzt leise und mit einem Schmunzeln „Schafe“ hinzu, so, als ob dieses eine Wort alles beschreiben würde. „Wahrscheinlich waren wir einfach auch viel zu spät dran“, sagt Alex. „Die Demoteilnehmer waren es nicht gewohnt, mitzuentscheiden oder in Entscheidungen auch nur einbezogen zu werden. Das ist ja schon vor der Schlichtung so gewesen. Vielleicht hätten die provokanten Befragungen damals etwas gebracht, als noch mehr Selbstdenker und Freigeister in der Bewegung aktiv waren.“ Auch bei Harry hat die Organisation der Befragungen Spuren hinterlassen. Seine Enttäuschung über die Folgenlosigkeit der Befragungen ist so groß, dass er sich von den Montagsdemos erst einmal zurückziehen möchte. Seither wurde er aber doch noch auf jeder Demo gesichtet.
Obwohl die Durchführung der Befragung inhaltlich und organisatorisch ein Kraftakt war, bereuen es die Fünf nicht, immerhin sieben Befragungen durchgeführt zu haben. „Zumindest haben wir gezeigt, dass es möglich ist, die Demonstranten offline und direkt nach ihrer Meinung zu befragen. Vielleicht macht das den jetzigen Entscheidern ja Mut, bei wichtigen Entscheidungen endlich auch einmal einen größeren Teil der Bürgerbewegung mitbestimmen zu lassen“, zieht Wolfgang ein Fazit. Denn auch wenn 82% der Befragten angegeben haben, dass sie gerne weiterhin an solchen Umfragen teilnehmen würden, wird es von dieser Gruppe erst einmal keine weiteren Umfragen mehr geben.
Siehe auch – Alle Umfragen auf einen Blick (PDF)
Text und Interview – Zwuckelmann
28.09.2014 – LoB
Zu den Schafen. Ja, Demoteilnehmer und auch andere Aktive verhalten sich oft wie Schafe. Für meinen Teil finde ich das auch gut so. Denn würde Jede(r) sein eigenes Süppchen kochen wäre der Widerstand gar nicht wahrnehmbar. Eine Demo bringt es eben nur, wenn da Hunderte oder Tausende auf einem Haufen sind. Daraus zu folgern, dass die Teilnehmer alle doof oder desinteressiert sind, halte ich für einen fundamentalen Fehler. Die Leute sind aktiv, auch wenn sie sich meistens dem grossen Haufen anschliessen.
Die Sache mit dem Frust. Wie hätte solch eine Reaktion denn aussehen sollen? „Gewöhnliche“ Demoteilnehmer würde man ja nicht einmal auf die Bühne lassen und wenn sie aus dem Publikum rufen, würde das kaum jemand wahrnehmen. Mit anderen Worten: ausser beim Demoteam kann gar keine nennenswerte Reaktion erfolgen.
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Ich finde, die UmfragerInnen haben das toll gemacht. Doch um der Sache die gewinnbringende Krone aufzusetzen, sollte noch eine Art Petition folgen. Dann ist es keine Umfrage mehr, die man abtun kann, sondern eine direkte und unmissverständliche Aufforderung.
Du fragst nach Reaktionen die möglich wären – es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Eine davon nennst du zb. schon selbst. Was hält dich davon ab diese Petition die du dir wünscht selbst zu starten?
Brauchst du jemand der dir auch hier den Weg weißt – dann hast du den Sinn der Umfragen nicht verstanden.
Just Do it! Egal was es ist aber tu es!
> Was hält dich davon ab diese Petition die du dir wünscht selbst zu starten?
Mal abgesehen davon, dass ich am Bodensee wohne, hält mich davon ab, dass ich dann nicht nur, wie die Umfragen-Betreiber, die Demo-Orga gegen mich hätte, sondern ganz Cams21 und die Umfragen-Betreiber noch dazu. Einzelaktionen habe ich schon probiert, es ist mehr als offensichtlich, dass gemeinsames handeln im S-21-Widerstand strikt verpöhnt ist und auf gar keinen Fall unterstützt wird. Vielleicht, weil gemeinsam Handelnde „Schafe“ sind. Siehe oben.
Nunja ich nehme an du sprichst von einer sog. „Onlinepetition“?
Die und deren Start ist ja völlig unanbängig von deinem Wohnort.
Und warum solltest du dann jemand „gegen“ dich haben? Es ist doch eher so das dann diese Petition (was auch immer diese Themaisiert) dann eben entweder mehr oder weniger Unterstützer haben wird. Wenn es ein Thema ist das viele gut finden unterstützen es viele wenn es wenige Gut finden eben wenige. Was hast du zu verlieren?
Den letzten Teil verstehe ich Inhaltlich nicht – du sagst du hast „Einzelaktionen“ gemacht aber schreibst dann das du gemerkt hast das „Gemeinsame Aktionen“ verpöhnt sind!? Das würde ja bedeuten das deine Einzelaktionen erfolgreich waren und wäre ja dann Positiv. Genauso das mit den „schafen“ ich weiß leider nicht was genau Andreas damit meinte und genauso weiß ich nicht was du mit „Schafe“ meinst. Es ist immer schwer mit „Schubladen“ zu kommunizieren auf denen ein so allgemeiner Begriff steht…
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