Pressearbeit geht nicht vom Sofa aus – Der 20.06.2011 in Stuttgart

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img_6869Fünfeinhalb Jahre ist es nun her, dass die Demonstranten in Stuttgart nach einer ihrer Montagsdemonstrationen auf das Gelände des einstigen Zentralen Omnibusbahnhofes (ZOB) in Stuttgart liefen. Wie stets auch begleitet von Reportern von cams21. Vieles wurde seither über diesen Tag geschrieben und vieles gesagt — aber außer Fakten haben wir von cams21 uns mit Berichten, Einschätzungen und Kommentaren sehr zurückgehalten. Das hatte rechtliche Gründe, denn gegen fast alle aktiven Mitglieder von cams21 wurde seit diesem Tag polizeilich ermittelt. Warum? Nach den Erfahrungen vom 30.09.2010, dem Schwarzen Donnerstag, stand für fast alle unsere Reporter außer Frage, dass wir gerade an so einem Tag NICHT vor dem nicht mehr vorhandenen Zaun stehen bleiben können. Seit dem Schwarzen Donnerstag ist cams21 auf nahezu allen S21-Aktionen vor Ort, um sich selbst ein Bild machen zu können und dieses Bild möglichst via Livestream neutral, ungeschnitten und direkt ins Internet zu streamen und damit potenziell der ganzen Welt verfügbar zu machen. Wie auch Kollegen vom SWR, der lokalen Presse und freien Reportern diverser Presseagenturen gingen wir also mit auf das Gelände des ehemaligen ZOB. Wir verteilten uns auf dem gesamten Gebiet, um möglichst alle Bereiche dieser unübersichtlichen Lage einsehen und von überall berichten zu können.

Während des Demonstrationszuges war der Livestream ins Internet wie immer gut möglich. Doch als wir an den Bahnhof kamen und dann auf die Straße am Schlossgarten zum ZOB abbogen, brach die Datenrate plötzlich so stark ein, so dass keinerlei Liveübertragung ins Internet mehr möglich war. Dieser massive Rückgang der Datenrate war äußerst ungewöhnlich und alarmierte diejenigen von uns, die es überhaupt bemerkten – img_9413es motivierte uns, nur umso näher am Geschehen zu bleiben und zu dokumentieren. Wer erinnert sich nicht an die dreiste Pflastersteinlüge des damaligen Innenministers Heribert Rech zum Wasserwerfereinsatz am 30.09.2010? Einzig und allein weil es an diesem Schwarzen Donnerstag Livebilder von Smartphone-Nutzern aus dem Schlossgarten gab, konnte Marietta Slomka im Heute-Journal gegenüber Stefan Mappus klar stellen, dass keine Pflastersteine auf Polizisten geworfen worden wurden. Die Geschichte eines wütenden, gewaltbereiten Blocks auf Seiten der Bürger lief ins Leere – und konnte nicht mehr als Begründung herhalten für den vollkommen überzogenen Polizeieinsatz.

img_6887Nur durch direkte, ungeschnittene Livebilder kann solchen Lügen vorgebeugt werden. Und genau das ist die Hauptmotivation für unsere Arbeit. Dass es genau an diesem Abend keinerlei Möglichkeit gab, unsere Bilder live ins Internet zu streamen, alarmierte uns nur umso mehr. Ob die gleich am nächsten morgen kommunizierten maßlos übertriebenen und erst über ein Jahr später deutlich relativierten Schadensummen und die überdramatisierte Geschichte eines zivilen Polizeibeamten, der sich auf der Flucht vor einem wütenden Mob in Lebensgefahr befunden hätte (siehe Video – es zeigt eben diesen Polizisten nach dem er angeblich in Lebensgefahr gebracht wurde.), überhaupt möglich gewesen wären, wenn wir live von diesem Abend hätten berichten können?

Im Gegensatz zu anderen Medienvertretern, die am Abend des 20.06.2011 vom ZOB berichteten, sahen wir uns in der Folge einer massiven staatlichen Verfolgung ausgesetzt. Bei den meisten von uns stand wenige Tage später die Polizei vor der Tür und durchsuchte unsere Wohnungen und nahm Computer und Festplatten mit. Darüber hinaus wurde wegen schweren Landfriedensbruchs, Sachbeschädigung und Körperverletzung gegen uns ermittelt. Diese haltlosen Vorwürfe verwundern umso mehr, da wir bis dahin von der Polizei und den Einsatzleitern in den meisten Fällen als freie Reporter und als Presse akzeptiert und behandelt worden sind, auch wenn wir diese Arbeit nicht Hauptberuflich ausüben. Die Polizei kennt uns und wusste, dass wir neutral dokumentieren und nie im Schutze des Pressestatus in irgendeiner Art selbst bei Aktionen aktiv geworden sind. Das war auch am 20.06.2011 nicht anders. Die Verfahren und anhängigen Prozesse gegen die Mitglieder von cams21 schleppten sich dennoch teilweise bis ins Jahr 2016 hin. Und auch der Vorwurf des Landfriedensbruchs stand lange im Raum. Die Stadt Stuttgart hatte bis vor Beginn des Immobilienprojekts Stuttgart 21 einen funktionierenden zentralen Busbahnhof mit anschließendem Park mitten im Herzen der Stadt.

©2011 Walter Steiger
©17.06.2011 Walter Steiger
©2016 Wolfgang Rüter
©2016 Wolfgang Rüter

Wie es dort heute aussieht, zeigt das Bild rechts. Welcher „Landfrieden“ soll hier von wem gebrochen worden sein? Nach deutschem Recht findet ein „Landfriedensbruch“ dann statt, wenn schwere Sachbeschädigung oder mitgeführte Waffen oder Werkzeuge von einer Menschenmasse benutzt werden, um bewusst Gewalt gegen Menschen oder Sachen auszuüben. Aber weder gab es an jenem Abend wirklich schwere Sachbeschädigungen noch wurden Waffen mitgeführt, um Gewalt auszuüben. Cams21 war vor Ort, um zu berichten und zu dokumentieren – gerade auch, wenn es zu schweren Sachbeschädigungen oder zu Gewalt gekommen wäre. Die lange aufrechterhaltenen Vorwürfe und die über Jahre verschleppten Ermittlungen und Verfahren können einem nur vollkommen übertrieben vorkommen. Mehr als bewusste Einschüchterung der Gegner und auch der Mitglieder von cams21 kann man dahinter nicht sehen. Heimlich, still und leise wurde die Drohkulisse des Landfriedensbruchs in den Verfahren immer häufiger aufgegeben. Uns ist kein Verfahren bekannt, in dem ein Demonstrant vom 20.06.2011 wegen Landfriedensbruchs verurteilt wurde. Die Schadensumme wurde ebenso heimlich, still und leise immer weiter herunter geschraubt, und der angeblich lebensbedrohlich verletzte Polizeibeamte lief bereits am selben Abend wieder recht munter umher und telefonierte. Das „schützenswerte Land“ war daraufhin jahrelang eine verlassene Brache und ist mittlerweile ein sinnloses Milliardengrab. Im Gegensatz zu unseren Reportern wurden die Kollegen der „etablierten Medien“ nicht verfolgt. Während die Polizei diese direkt um Herausgabe ihres Materials bat, war dieses Vorgehen bei uns offenbar nicht möglich (abgesehen davon war alles was von uns dokumentiert wurde wenige Tage später sowieso logischerweise bereits online).

img_6873Wir wurden nie gefragt, es wurden gleich  Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen durchgeführt. Der Versuch, uns einzuschüchtern, war wohl wichtiger genauso wie die Versuche, unser Material in Prozessen gegen langjährige Mitstreiter zu missbrauchen oder auch uns gegeneinander aufzubringen und auszuspielen. So wurden wir alle mit vollkommen unterschiedlichen Strafandrohungen belegt, obwohl allen dasselbe vorgeworfen wurde. Bei manchen standen Strafen von bis zu 9.000 Euro im Raum. Die Strafe der existenzbedrohenden 9.000 Euro wurde über mehrere Jahre aufrecht erhalten. Dann kam ein Angebot zur Einstellung des Verfahrens gegen eine Zahlung von 450 Euro. Als dieses Angebot über viele weitere Monate nicht angenommen wurde, wurde das Verfahren schließlich unvorhergesehen gegen eine Geldauflage von 150 Euro eingestellt. Es bestünde kein öffentliches Interesse an der weiteren Verfolgung, war die lapidare Begründung. Ein Verfahren wurde bereits nach wenigen Monaten eingestellt, ein anderes Verfahren nun schließlich nach nahezu sechs Jahren. Beide ohne weitere Auflagen. Der nicht haltbare Vorwurf des schweren Landfriedensbruchs wird also bei acht Personen, die sich alle gleich und alle gleich friedlich verhalten haben, vollkommen unterschiedlich weiterverfolgt und mit Strafen von 1.250 Euro bis zu 0 Euro beendet. Nach jahrelanger Ungewissheit, vielen Beratungsstunden mit Anwälten, unzähligen Schriftsätzen zwischen Anwaltschaft, Staatsanwaltschaft und Gericht soll es nun also kein öffentliches Interesse mehr an diesen Fällen geben. Was war also der Sinn dieser ganzen aufgebauschten Ermittlungen und Verfahren?

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Der 30.09.2010 hat uns gezeigt, wie wichtig eine unabhängige, möglichst direkte und ungefilterte Berichterstattung ist. Genau dafür ist cams21 entstanden. Wir sind mittendrin statt nur dabei, denn unabhängige, ungeschnittene Berichterstattung geht nur aus der ersten Reihe. Auch wenn das nicht immer bequem ist. cams21 lässt sich nicht einschüchtern, dass lernten wir aus dem 20.06.2011. Weder von Privatpersonen noch von Organisationen oder staatliche Einrichtungen. Gerade deshalb sind freie Medien heute wichtiger denn je.

© Klaus Rau
©2008 Klaus Rau

Denn auch heute noch werden Menschen dafür verfolgt, dass sie sich am 20.06.2011 gegen das sinnlose Milliardengrab Stuttgart 21 friedlich eingesetzt haben. Das „schützenwerte Land“ (siehe links) gibt es längst nicht mehr. Um den Vorwurf des Landfriedensbruches weiterhin aufrecht zu erhalten, müsste dieses Land erst wieder hergestellt werden. Umstieg21 wäre der einzig noch sinnvolle Weg aus dieser politisch gewollten Sackgasse der systematischen Zerstörung einer lebenswerten Innenstadt und von wertvoller Infrastruktur.

Oben Bleiben – jetzt erst Recht.
cams21 – mittendrin statt nur dabei.

10.01.2017 / LoB + Zwuckelmann