Rückbesinnung auf die res publica

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BürgerInnen-Parlament
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Gestern geschah im Rathaus zu Stuttgart Ungeheuerliches: ca. 200 Bürgerinnen und Bürger diskutierten in einem offenen Forum von 11 bis 17 Uhr darüber, wie sie in dieser Stadt zusammen leben wollen, wie sie ihre Belange wirkungsvoller artikulieren können und wie sie die bestehenden demokratischen Strukturen weiterentwickeln könnten, damit ihre Belange besser berücksichtigt würden.

Konsens und verbindendes Element der vielen unterschiedlichen Teilnehmer war die Erfahrung, dass nicht das Gemeinwohl im Mittelpunkt der Entscheidungen unserer Volksvertreter in Stadt und Land steht, sondern oft genug wirtschaftliche Partikularinteressen. Immer wieder fielen die Beispiele LBBW, Patrizia oder Cross Border Leasing.

Die Vorgänge sind so unerhört, dass Bürgermeister Werner Wölfle Tags zuvor in einer Pressemitteilung die Drohung veröffentlichen ließ, dass sich auch die Bürgerinnen und Bürger, die über derartige Themen diskutierten, an Recht und Gesetz halten müssten. Er selbst sei verärgert, dass sich Bürger anmaßten, ein „entscheidungsbefugtes Parlament der Bürgerinnen und Bürger“ einsetzen zu wollen und damit die demokratische Verfassung infrage stellen würden.

Es war eben jener Werner Wölfle, der vor einem starken Jahr mit dem Regierungswechsel im Land und seinem Wechsel auf den Bürgermeisterposten betonte, dass die Grünen und auch er einen anderen Politikstil pflegen werden und dass man ihm auf die Füße treten solle, wenn er Fehler mache. Mit der gestrigen Veranstaltung bekam er kräftig auf die Füße getreten – hat dies aber leider falsch interpretiert und genau so machtversessen reagiert, wie man es von besitzstandswahrenden Machtmenschen erwartet.

Dabei ging es gestern vor allem darum, wie die demokratischen Strukturen und Entscheidungsprozesse so weiter entwickelt werden könnten, dass wieder mehr das Bürgerinteresse und das Gemeinwohl, also die res publica, im Mittelpunkt der Entscheidungsfindung steht.

Nach kurzer Begrüßung durch Peter Gruber und einer Erklärung des musikalischen Beitrags durch Christoph Kämper spielte das Ensemble Subito den 1. Satz des 3. Brandenburgischen Konzerts von Bach und stimmte so auch musikalisch wunderbar auf den Tag ein. Daraufhin gab es Impulsreferate von Jens Loewe zum Bürgerhaushalt in Porto Alegre und von Doris zur Initiative „Recht auf Stadt“. Dann ging es ganz schnell, dass die Teilnehmer aktiv werden mussten. Auf Karten sollten sie die für sie drängendsten Themen schreiben und an Pinwände hängen. Diese wurden daraufhin von den Veranstaltern sortiert und auf zehn Themenblöcke aufgeteilt. Jeder der Teilnehmer wurde nun aufgefordert, sich zu einem der Themenblöcke zu gesellen und mit den anderen über das Thema und die dazugehörigen Kärtchen zu diskutieren. Die Veranstalter selbst protokollierten die Diskussionen.

Die Selbstorganisation der Gruppen klappte sehr gut und in allen Gruppen gab es einen harten Kern, der den gesamten Tag über in dieser Gruppe blieb. Andere Teilnehmer wechselten von Gruppe zu Gruppe und brachten sich und ihre Ideen in mehreren Gruppen ein. Themenblöcke waren beispielsweise „Demokratie“, „Nahverkehr“ oder „Bildung und Soziales“.

Auch die Versorger waren vor Ort und verpflegten die Teilnehmer mit Tee, Kaffee, Butterbrezeln und selbst gebackenen Kuchen. Das Catering war wieder einmal perfekt, denn bis zum Schluss gab es alles, was das Herz begehrte.

Um 14 und um 15 Uhr gab es weitere Vorträge zu der belgischen Initiative G1000 und zu den mexikanischen Zapatisten. Um die Diskussionen nicht zu stören, wurden diese Vorträge ohne Mikrofon abgehalten.

Insgesamt war es eine sehr lebhafte Veranstaltung. Bis zum Schluss um 17 Uhr waren noch immer über 100 Bürgerinnen und Bürger vor Ort und diskutierten. Da nach der Rathausbesetzung vor wenigen Wochen die Regeln der Vermietung des Ratssaales geändert wurde, musste die Veranstaltung pünktlich beendet werden. Nach einer Feedbackrunde, die überwiegend positive Rückmeldungen und den eindeutigen Wunsch nach einer Fortführung brachte, wurden an der Rathaustüre noch Forderungen und Wünsche auf große, bunten Zetteln angeschlagen.

Manch einem mag die Ergebniszusammenfassung oder das Fazit oder eine klare Richtung gefehlt haben, wie es denn nun weitergehe. Die Protokolle der Diskussionsgruppen werden bis in einer Woche auf der Homepage veröffentlicht und den Teilnehmern per Email zu geschickt. Daraufhin wird es einen zweiten und sicherlich auch einen dritten Termin geben, wo sich die Teilnehmer in ähnlichem Rahmen vertieft den in vier Stunden andiskutierten Themen widmen können. Was am Ende heraus kommt, bleibt offen. Die Veranstalter werden sich jedoch darüber klar werden müssen, wie sie methodisch die vielen Ideen und Wünsche und Vorstellungen irgendwann so verdichten, dass ein konkretes Ergebnis zustande kommt, an dem die interessierten Bürger dann gezielt weiter arbeiten können.

Deutlich gezeigt hat die Veranstaltung jedenfalls, dass es bei vielen Bürgerinnen und Bürgern das Bedürfnis gibt, Entscheidungsprozesse zu ändern und das Gemeinwohl wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Und wie Jens Loewe sagte: Wer, wenn nicht die Bürgerschaft selbst, könnte ein BürgerInnen-Parlament mandatieren? Dazu müssen die Bürger auch nicht Herrn Wölfle um Erlaubnis bitten. Das ist lebendige, gelebte Demokratie!

Die Aufzeichnungen der Veranstaltung: 

Die Begrüßung durch Peter Gruber

Das Ensemble Subito

Die kurzen Einführungen

Um 16:00 Uhr ging es dann so weiter:

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20.01.2013 zwu/pet

4 Kommentare

  1. Ja – das muss endlich laut gesagt werden, von welchen Interessen die jeweiligen Entscheidungen unserer Gemeinderäte, Parlamente, Regierungen und Verwaltungen geleitet sind. Und Bachmusik zur Einstimmung ist eine sehr gute Idee. Weitr so.
    Christoph Köhler

  2. Res publica – es war ein wunderbarer Einstieg in eine neue Zeit der Demokratie-Wahrnehmung. Bach-Musik am Anfang eines solchen Experiments zur Einstimmung in Themen, die vielstimmig diskutiert werden von vielen Individualisten, die letztendlich einen Konsens anstreben, zum Wohl unserer Stadt, zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der Zukunft – nicht zur Steigerung der kommerziellen Erfolge für Politik und Wirtschaft, welche die BürgerInnen zu bezahlen haben. Weiter so – solche Veranstaltungen werden Schule machen in unserem Land. Wir sind aufgewacht.
    Ellen Wurster

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