R. Schmittmann 30.11.2011 Psycholog. Geschi. z. polti. Zeitgeschehen
Psychologische ‚Geschichten’ zum politischen Zeitgeschehen
Man kann eigentlich von psychologischer Seite aus relativ eindeutig sagen, wie man kommunizieren muss, damit das Leben miteinander friedlich und konstruktiv gestaltet werden kann. Deswegen kann man auch durchaus abschätzen, was passiert, wenn man sich nicht an das Normale hält.
Es gibt jedoch langgestreckte Situationsentwicklungen, in denen der Mensch mit dem Normalen Schwierigkeiten bekommt: Sie schlucken viel Energie wegen aufwendiger Anpassungsleistungen und der Mensch merkt nicht, dass er sich an ziemlich absurde und verdrehte Verhältnisse gewöhnt: Es bleibt ihm erst einmal nichts anderes übrig, dann findet er sich mit ihnen ab und merkt verdrehte Verhältnisse dann nicht mehr so leicht. Das ist auch ein großes Hemmnis für alle Demokratieentwicklungen.
Wie zu Kaiserzeiten
Es ist heute noch wie zu Kaiser- und Königszeiten: Die demonstrierenden Bürger (heute zwar verfassungsmäßig legitimiert) auf der Straße werden von den regierenden Volksvertretern nur als Störenfriede, als Menschen zweiter Klasse behandelt: Ihnen muss man eigentlich nicht zuhören, man lässt sie draußen stehen und stattdessen sorgt man nur dafür, dass die folgsamen und braven Bevölkerungsgruppen, die sich mit der Obrigkeit identifizieren) gegen diese Störenfriede aufgebracht werden, nach dem Motto: ‚Ohne sie wäre ja alles so schön gemütlich mit uns’. Dieses Aufhetzen regimetreuer Bevölkerungsgruppen auf demonstrierende Kritiker funktioniert zur Zeit auch in den arabischen Ländern sehr gut. Es wurde auch bei der Volksabstimmung wieder zum Funktionieren gebracht und getestet. Das Ergebnis: Es funktioniert noch wie zu Kaiserzeiten: Mit Hilfe der obrigkeitshörigen Medien schafft man es, die regimetreuen Bürger gegen die kritischen Bürger auszuspielen. Dann muss man die dreckige Arbeit nicht selber machen.
In Stuttgart hatte sich eigentlich die Chance für neue Umgewöhnungsprozesse aufgetan, damit der alte Untertanenstaat endlich hätte weiterentwickelt werden können. – Es spricht einiges dafür, dass sie genauso wie 68 gerade verspielt wird.
Aus dieser Warte heraus betrachtet sollten einem bestimmte Punkte beim Ablauf der Geschehnisse um das Projekt S 21 auffallen, die erschreckend viel mit dem reibungslosen und diktatorischen Funktionieren großer Organisationen zu tun haben, an die sich das Volk langsam wieder zurück- gewöhnen soll. Es ist eigentlich nicht schwer, einige Abartigkeiten zu erkennen, wenn man nur häufig genug die Frage stellt: ‚Was wäre eigentlich normal gewesen?’
Kommunikation zwischen normalen Erwachsenen
1. Normal wäre z.B. Folgendes gewesen: Wenn schon über so lange Zeit soviele Bürger sich für etwas mit hohem Einsatz einsetzen, dann müsste irgendeinem Politiker mal einfallen, da müssten wir mal nachfragen, was denen eigentlich so wichtig ist, vielleicht haben wir irgendetwas noch nicht richtig verstanden.
– Einen solchen Einsatz der Bevölkerung stattdessen lange Zeit zu ignoriernen und abzuwerten, sich nur von den eigenen Bürgern angegriffen zu fühlen, ist nicht normal (also pathologisch; man kann aber therapeutisch dran arbeiten) und erzeugt in jedem menschlichen Gemeinschaftsgefüge (ob Familie, Partnerschaft, Firma) emotionalen ‚Sprengstoff’. (Wenn man das bewusst tut, ist das m.E. kriminell).
2. Normal wäre Folgendes gewesen: Dass die Politik als zahlender Auftraggeber nach der Schlichtung – die ja offiziell als Offenlegung und Überprüfung der Fakten gedacht war – die kritischen Ergebnisse dieses Fakten- Checks dankend entgegengenommen und sich intensiv mit den aufgedeckten Mängeln weiter beschäftigt hätte. Wären nur halb soviele Schwachpunkte aufgedeckt worden, wie damals bei der Schlichtung, hätte ein normaler und ernsthafter Kunde, der soviel Geld letztlich zahlen soll, zu sich gesagt, das nehme ich nicht (H.Geißler: ‚Dann dürfen wir das nicht bauen’), das bringt mir zu wenig’ und er hätte sich wenigstens die Mühe gemacht, das ganze fehlerhaft erscheinende Produkt von einem weiteren unabhängigen Gutachter noch einmal prüfen zu lassen, ob die Kritik auch wirklich stimmt, bevor er zahlt. – Das wäre normal gewesen. –
3. Dankbarkeit gegenüber den kritischen Bürgern wäre eine normale Reaktion gewesen, denn man wurde auf mögliche Mängel und Unzulänglichkeiten des Projekts hingewiesen von Leuten, die man noch nicht einmal dafür bezahlen musste; man wurde obendrein als Politiker automatisch noch einmal dazu gebracht, das ganze Projekt selber durchzudenken und konnte Gefahren und Risiken jetzt endlich selber genauer einschätzen. Während damals bei der anfänglichen parlamentarischen Abstimmung über das Projekt die Abgeordneten ja mit geschönten Daten abgespeist wurden, um ohne große Prüfung möglichst schnell abzustimmen (übliche Praxis). Nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Abgeordneten sollen nicht mitdenken und nur als Stimmvieh funktionieren
4. Normal wäre gewesen, sich darüber zu freuen und sich bei den mitdenkenden Bürgern zu bedanken, Honorare für die wertvolle Arbeit zu bezahlen, weil man gerade noch rechtszeitig soviel Schaden hat abwenden können. Der Bürger hat sich nämlich als eigentlicher zahlender Auftraggeber von solchen Projekten in seiner Stadt zu Wort gemeldet und will mitdenken und prüfen, damit das auszugebende Geld, was ihm gehört, auch wirklich dem Nutzen aller dient.
5. Normal wäre gewesen, dass die Politik nach der Neuwahl sich zusammen mit der Bevölkerung als zahlender und somit bestimmender Auftraggeber für das Projekt etabliert hätte, um zumindest vor der Stresstestdurchführung ihrem Produktlieferanten, die Bahn, klare Vorgaben zu machen und klare Bedingungen für die Prüfung und Optimierung zu stellen. So unkritisch und blauäugig naiv sich als Kunde jeden ‚Scheiß’ andrehen zu lassen, würde jedem normalen Menschem zahllose schlaflose Nächte bescheren. Deswegen kann der weiterhin kritisch denkende Bürger erst recht nicht nach der sogenannten Volksabstimmung schlafen: Er weiß, dass einer großen Bevölkerung ein großer ‚Scheiß’ in einer schönen Dose verkauft wurde.
6. Normal und menschlich wäre auch folgendes gewesen: Wenn schon von allen Parteien diese unsägliche Volksabstimmung als Fortschritt der Demokratie gefeiert wurde, wenn auch noch so klar und offensichtlich ist, dass man diesen Fortschritt einer kritischen Bewegung zu verdanken hat, dann dürfte die Politik nicht zulassen, dass erst einmal alle kritischen Sachargumente dieser mitdenkenden Bürger von einer riesigen Werbemaschinerie eines Konzerns und der Wirtschaft niedergewaltzt werden und zweitens nach dem zweifelhaften Sieg gerade diese engagierten Bürger noch massiv als Verlierer bespöttelt, belächelt, ausgebuht und angepöbelt werden. Wie kann man es nur zulassen, dass das eigentlich demokratische Instrument Volksabstimmung nur als rechtlicher Hebel gegen eine offenkundige Realitätswahrnehmung benutzt wird. (s. mein Artikel über die Etikettenschwindler).
Das alles ist nicht normal, nicht zivilisiert und nicht gesund in einem sozialen Gemeinschaftsgefüge.
Die Leute, die hier mitgemacht haben, ticken irgendwie nicht normal (oder noch wie im Kindergarten) und es muss dringend als pathologisch geächtet werden, wenn ein Konzern, wenn die Wirtschaft so mit ihren selbständig denkenden Menschen umgeht und wenn sie den politischen Rahmen, innerhalb dessen das jeweils stattfindet, noch Demokratie nennen wollen. Demokratie lässt sich nicht als reine formal-rechtliche Konstruktion durchführen.
Man wird den Eindruck nicht los, dass es hier nur um einen glorreichen Sieg über mitdenkende Bürger geht, um einen Sieg über kritisches Denken überhaupt. Wenn gerade über die besten kritischen Sachkenner des Projekts (z.B. Boris Palmer) hämisch triumphiert wird, zeigt das, wie schlimm es in unserer Gesellschaft eigentlich bestellt ist:
- Einem Konzern geht es letztlich darum, ob die ‚Macht’, zusammen mit dem ‚Geld’ und dem ‚Recht’ über die ‚Wahrheit’ triumphiert (‚Wahrheit’ nicht als moralische Kategorie, sondern als Kommunikationscode. s. N. Luhmann: Es geht um den Code ‚wahr- unwahr’ und ist zentraler Code in den Wissenschaften; z.B. geht es im Kommunikationssystem ‚Recht’ um den Code ‚recht- unrecht’).
Der Code ‚Wahrheit’ pfeift, wenn er überhaupt noch pfeift, auf dem allerletzten Loch
Der jüngst im Februar eskalierende Kampf rundum die Plagiatsvorwürfe eines von und zu Guttenberg konnte von der Wissenschaft noch knapp zu ihrem Gunsten entschieden werden. Der Code ‚Wahrheit’ war kurz davor, auf der Strecke zu bleiben. Wir haben es schon beschrieben, dass in der Zeit um Fukuchima einige Etikettenschwindel (Realitätsverdrehungen nach belieben) aufgeflogen sind, also die Einschüchterung der ‚Wahrheit’ nicht so gut klappte.
Man musste aber mit der Mobilmachung der Codes Macht, Geld (Haben- Nichthaben) und ‚Recht’ rechnen: Im Ablauf um S 21 hat die Bahn als Konzern alle Register gezogen, um über die ‚Wahrheit’ triumphieren zu können. Die erschlichene ‚Rechtmäßigkeit’ der Verträge bleibt von der herausgefundenen ‚Wahrheit’ unangetastet und die ‚Wahrheit’ ist nicht in der Lage das fragwürdige ‚Recht’ zu kippen, sie wird ihrerseits sogar ignoriert, spielt überhaupt keine Rolle mehr, es ist so, als wenn es sie nicht mehr gäbe. Eigentlich sollte das ‚Recht’ die ‚Wahrheit’ schützen. Jetzt steht nur noch die ‚Rechtmäßigkeit’ allein im Raum. – Alle sachlich kritischen Argumente wurden mit Hilfe gut instrumentalisierter Medien zum Verschwinden gebracht.
Die Volksabstimmung war ein zutiefst trauriger Tag (er müsste zum Volkstrauertag ausgerufen werden) als Endpunkt einer letztlich von langer Hand geplanten Strategie, ‚Macht, Geld und Recht’ so massiv in Anwendung zu bringen, damit man endlich den Untergang der ‚Wahrheit’, der freien Wissenschaft und des mitdenkenden Bürgers feiern kann.
Man sollte aber auch langsam erkennen, dass der kommunikative Code ‚Wahrheit’ letztlich ein sehr hinderlicher Code für die ungehinderte Entfaltung großer Konzerne ist, der ja nun jetzt für ein ganzes Land entsorgt ist und jeder kann beliebig auf der Meinungsebene mitreden und seine Stimme abgeben (s. mein Artikel über Meinungen).
D.h. Großprojekte können wieder, egal welchen realen Schaden sie anrichten, realisiert werden, wenn sie nur auf einer rein formaljuristischen Ebene rechtmäßig sind. ‚Recht, Geld, und Macht’ haben über die ‚Wahrheit’ gesiegt; dass das Volk nichts merkt, war schon der erfolgreiche Test.
Dr. Robert Schmittmann Rotenbergstr. 170 70190 Stuttgart 0711- 2865913 www.schmittmann-coaching.de Mail: robertschmittmann@gmx.info
Kretschmann bei "Wir reden mit" – sinngemäß: Es geht nicht um die Wahrheit, es geht nur darum, welche Argumente sich letztlich durchsetzen …
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