Last Call for an Elegant Rail Station

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Am 2. Oktober 2009 schrieb die New York Times einen wundervollen Artikel über Stuttgart21. Sachlich, objektiv, fachlich fundiert

Den Original-Artikel finen Sie hier: http://www.nytimes.com/2009/10/03/arts/design/03railway.html

Bereits im Oktober 2009 hat das cams21-Mitglied stefan1531 diesen Artikel übersetzt und ist jetzt (beim Aufräumen einer Festplatte) drüber gestolpert, weshalb wir die Übersetzung nun veröffentlichen:

 

STUTTGART, Deutschland

Der Streit zwischen Bauherren und Verfechtern der Denkmalpflege ist so alt wie Architektur selbst, aber einen Höhepunkt erreicht er in der jüngsten Zeit.

In Deutschland ist er besonders angespannt, da der Bauboom, der mit der Wiedervereinigung des Landes anfing, manchmal wie ein bequemes Argument für
das Abreißen unangenehmer historischer Wahrheiten scheint.

Nur wenig aktuelle Projekte veranschaulichen noch besser diesen Konflikt als Stuttgart 21, ein Plan, um einen enormen neuen Bahnhof, zusammen mit 37 Meilen Tunnel, im Herzen dieser alten industriellen Stadt zu errichten. Die Kosten ihn Höhe von 7 Milliarden US-$, die vermutlich Ende des Jahres bestätigt werden, sind ein Teil eines expandierenden Hochgeschwindigkeitsnetzes, das nach der Hoffnung der Planer irgendwann den gesamten Kontinent verbinden wird. Als  eines der größten Projekte in Europa könnte es das Stadtzentrum radikal verändern.

Aber der Entwurf zeigt eine verhärtete Missachtung für Architekturgeschichte. Sein Aufbau würde die teilweise Zerstörung von einem der am meisten bezeichnenden Bauten der Stadt erfordern: dem Stuttgarter Hauptbahnhof von Paul Bonatz, ein Denkmal des frühen deutschen Modernismuses, errichtet von 1914 bis 1928. Und in einer besonders perversen Geste von „Fassadismus“ – einer Lieblingstaktik der Bürokraten und Entwickler, in denen einige Architekturelemente konserviert werden, während der Rest eines Gebäudes plattgemacht wird – würde die Haupthalle des Baus einsam hochragen, dastehend wie irgendein Architekturamputierter. [anm.: was für ein treffender Ausdruck!]

In immer mehr Probleme geratend, schließt sich Stuttgart 21 einer wachsenden Liste der irregeführten Projekte an, die Deutschlands Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts in eine Märchenversion der Wahrheit reduzieren. Bonatz’s meistgefeierte Arbeiten, wie ein System von stromlinienförmigen Verschlüssen und der Brücken entlang dem Rhein, die Ende der Zwanzigerjahre errichtet wurden, haben eine Ersatzeleganz, die an die Realismus-Architektur in Amerika erinnern.

Und sogar einige seiner Arbeiten während der Nazi-Ära, wie das Baseler Kunst-Museum 1936, hat ein unverkennbar menschliches Maß. Seine Steinfassade, mit
seinen niedrigen klassischen Bögen, bleibt einer der geliebten Sehenswürdigkeiten der Stadt.

Aber Bonatz ist nicht ein Architekt, der einfach nur geliebt werden kann. Die Anstrengungen, seine Werke abseits der Naziära zu halten, führten ihn in die endlosen ästhetischen und moralischen Kompromisse. Seine Studien für ein gewaltiges rundes Stadion und den Münchner Bahnhof, der glücklicherweise nie errichtet wurde, stellten die Art des grotesk überzogenen Klassizismus dar, den Hitler verehrte. Gleichzeitig reizte seine Kritik der Arbeit von Paul Troost, einer von Hitlers Lieblingsarchitekten, die Gestapo. Er floh schließlich in die Türkei.

Bonatz war, mit anderen Worten, der Typ des moralisch vieldeutigen Opportunisten, während der Architekturgeschichte, jemand, der unbequeme politische Wirklichkeiten ignoriert haben können, wenn es seinem Interessen diente und der seine Ästethik auf die Werte seiner Klienten fein abstimmte. Dennoch produzierte er auch Arbeiten der unleugbaren Schönheit. Der Stuttgarter Hauptbahnhof, der einige Jahre vor Hitlers Machtübernahme fertiggestellt wurde, mag Bonatz’s größter architektonischer Balanceakt gewesen sein. Seine imponierende Fassade, markiert durch eine flache Arkade und sehr hohe Säulen, ist so packend wie ein frühes Gemälde von de Chirico [Anm.: s.a. http://massimo.delmese.net/wp-content/uploads/GiorgioDeChirico-1.jpg]. Eingerahmt von steinernen Eingangshallen an jedem Ende, hat er einen strengen, vereinfachten Klassizismus, der auch erklärt, warum Bonatz während der Nazizeit weiterbauen konnte. Die zwei monumentalen Flügel, die die Gleisanlage einrahmen, vergrößern noch den imposanten Bau des Bahnhofs.

Dennoch weichte Bonatz sorgfältig diesen Effekt auf, indem er den Bahnhofsturm mit seiner Uhr an die Südostecke der Station setzte. Die Position des Turmes, der einmal private Warteräume für den König unterhielt, bricht die Symmetrie des Gebäudes und gibt ihm ein menschliches Maß. Leicht vom Zentrum der historischen Achse der Stadt versetzt, demonstriert er auch eine Sensibilität, indem die Komposition des großstädtischen Baus dennoch den Verkehrsfluss nicht unterbricht.

Stilistisch stellt der Entwurf Bonatz’s die Erforschung dar, zwischen Klassizismus und Modernismus eine Balance zu finden. Der erste der zwei Flügel, errichtet von 1914 bis 1917, ist der traditionellste und konservative, mit hölzernen Wendeltreppen und aufwendigen Metallgittern an den Fenstern im ersten Stock. Die große Eingangshalle, die zeitgleich errichtet wurde, hatte eine traditionelle Fachwerkdecke.

Mitte der zwanziger Jahre, als Bonatz die zweite Eingangsshalle entwarf, benutzte er Ziegelsteine anstelle vom Holz. Der abschließende Flügel, entworfen einige Jahre später, war stromlinienförmig, die Fenster horizontal unterbrechend, die vermuten ließen, dass der Architekt in Richtung der moderneren Ästethik tendierte.

Der gesamte Bau kann als Bemühung verstanden werden, die tiefsten Ängste dieser Zeit auszudrücken: die Anstrengung, mit den technologischen und sozialen Veränderungen Schritt zu halten und der Angst, mit der Geschichte den Kontakt zu verlieren.

Dem neuen Bahnhof, entworfen von Ingenhoven Architects, fehlt dieser Ehrgeiz. Um diesen zu bauen, plant die Deutsche Bahn, alles außer den Hauptbau und den Turm zu zerstören. Die Bahnsteige würden unter die Erde verlegt, mit Schienen, die parallel zu der alten Eingangshalle verlaufen. Ein großer Platz würde auf dieses Untergeschoss aufgesetzt, seine Oberfläche durchstochen von großen, augenförmigen Lichtschächten. Vier neue Eingänge, mit verschaltem Glas und Betondächern, würden zu den Bahnsteigen aus den Ecken des Platzes führen.

Die Verteidiger des Planes argumentieren, dass er für die ökonomische Zukunft der Stadt notwendig ist. Er schaffe eine Verbindung zwischen West- und Osteuropa und beschleunigt den Verkehr nach Süden, nach Athen. Hinzukommend, gibt der Rückbau der alten Schienen und Verlegung der Bahnsteige in den Untergrund wertvolle Bauflächen in der Stadtmitte frei, was Milliarden Euro bei der Rückfinanzierung für die Bahn bedeuten könnte.

Schließlich glauben sie, dass großräumige Infrastrukturprojekte in starken Zeiten benötigt werden. Wir benötigen Jobs, oder? Und werden nicht die wichtigsten Teile des alten Gebäudes erhalten?

Was so beängstigend an diesem Vorschlag ist, ist seine Vertrautheit. Ingenieure, mit Stopuhren in der Hand, berechnen die effiziente Zeit zwischen zwei Punkten. Politiker spielen mit Zahlen und schätzen, dass, je größer der Auftrag, umso größer der Ertrag sei. Entwickler fangen an, die Profite zu berechnen, wenn große Flächen des öffentlichen Grundstücks in private Interessen gewandelt werden.

Unterdessen werden die, die sich für Städte und ihre Geschichte interessieren, mit Oberflächlichkeiten beschwichtigt. Und Architektur wird auf eine Postkarte reduziert – ein leeres, nichtssagendes Stück Papier.

Im Falle Stuttgarts sind die Nuancen, die dem Design das Leben einhauchen – der freiwerdende Raum, der Konflikt zwischen Tradition und Modernisierung – verloren. Die neuen Eingangsshallen, gleichwohl elegant konzipiert, werden wahrscheinlich die alte Halle wie ein Anhängsel aussehen lassen und ihr die Funktion und Bedeutung nehmen.

Es gab andere Möglichkeiten. Ein Antrag des Architekten Roland Ostertag, der das vorhandene Hallendach durch ein zylinderförmiges Glasdach ersetzt haben wollte, wäre weit eleganter und ökonomischer gewesen. Einen Teil der Gleise in den Untergrund zu verlegen, wäre ebenfalls Teil des Entwurfs gewesen. Und die Differenz in der Reisezeit wäre vermutlich minimal gewesen. Viele Gegner des Planes erklären, dass der neue Entwurf gerade einige Minuten Zeitersparnis zwischen Stuttgart und Ulm bringen würde, dem nächsten Halt auf dieser Reiseroute. Das Ersetzen der Schienen zwischen dieser beiden Städte würde jedoch viel mehr Zeit sparen. Als ich mit dem Architekten des Bahnhofs sprach, wollte er über dieses Thema nicht diskutieren.

Aber diese Option wurde nie vollständig in Betracht gezogen, aus Furcht dass sie den Gegnern Munition auf das Projekt liefert.

Das Beharren, ökonomische über die geschichtlichen Belange zu setzen, hat bereits zur Zerstörung der historischen Denkmäler wie des Palastes der Republik in Berlin, einer Sehenswürdigkeit in Ostdeutschland, geführt. Es wird wird bald zur Verstümmelung des Tempelhofer Flughafens führen, einer der wenigen großen Architekturvollendungen des frühen Nazizeitraums. Wenn es so weitergeht, wird es mit einer billigen, vereinfachten Geschichtsansicht enden, die die Konflikte und Widersprüche unterdrückt, die Städte lebenswert machen.